Gekürzter Text aus dem Essayband: Dem Leben die Lügen zurückgeben. - Über Masken, Freiheit und Moral

Was für eine «unvernünftige» Entscheidung mit über sechzig Jahren zum ersten Mal auf einem Mountainbike in die Berge Kretas zu strampeln. Voraussetzung für diese Unvernunft war meine Klarheit darüber, dass sportlich gesehen, keine großartigen Leistungen zu erwarten sind. Mich auf dem Rad fünftausend Kilometer im Jahr durch Landschaften zu bewegen, gehört zu meinem Leben. Nur das Fahren ist wichtig. Nicht das Ergebnis. Jetzt ging es mir nur darum, etwas zu beginnen, das in dieser Lebenssituation absolut neu war. Mir war eindeutig klar, dass gerade die absehbare Aussichtslosigkeit meines Unterfangens, den Ausschlag gab, auf so eine Maschine zu steigen. Mich bewusst auf unerwartete Situationen einzulassen. Es ging mir darum, mich mit Neugier und Hingabe in das Chaos einer fragmentierten Natur zu stürzen. Auf steilen unwegsamen Pisten meinem Körper, meiner Kraft, meinem Gleichgewicht zu vertrauen. Mich dem Unbekannten aussetzen. Ohne Furcht vor Lächerlichkeit. So, als ginge es jetzt, im Rückblick auf mein bisheriges Leben, um eine Metapher für die gelebte Zeit.

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Schon ein paar Tage später fahre ich allein in die Berge Ostkretas. Schotterpisten, schmale, kurvenreiche Pfade führen durch Olivenhaine, quetschen sich an atemberaubend steile Schluchten oder stürzen sich beängstigend in die Tiefe. Kleine Brunnen mit herrlich frischem Quellwasser finden sich in der Nähe halb verlassener Dörfer im Nirgendwo der Landschaft. Orientierungen bieten die Blicke zum Meer. Weit unter mir in der Ferne. Stundenlang sehe ich keinen Menschen. Es ist die einsame Ziellosigkeit, die mich hier beim Mountainbiken mit einem Gefühl des Glücks begleitet. Das Unvorhersehbare. Ich weiß nie genau, was als Nächstes auf mich zukommt. Das Denken transformiert sich zu einer Erfahrung von Landschaft, Wegen, Hindernissen. Kontinuierliche Versuche, in ungewohnter Unwegsamkeit die Courage nicht zu verlieren. Gefahr abwägen. Den ganzen Körper spüren. Hoch konzentriert auf nur eine Sache. Weil jede Abschweifung zu einem Sturz führen könnte. An extremen Steigungen die letzte Kraft herauspressen. In kritischen Momenten in der Balance bleiben. Furcht bei steilen Abfahrten überwinden.

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Neuland befahren auf dem Bike. Ich spüre verständnislose Blicke hinter meinem Rücken. Doch sie sehen nur mein Hinterteil. Nicht meine strahlenden Augen. Es gibt nichts mehr, was geklammert werden muss. Nichts mehr muss festgehalten werden. Der Ballast bleibt hinter mir. Ein Gefühl der Leichtigkeit entsteht, das mich keuchend eine gnadenlose Steigung erstrampeln lässt.

Das Verschwinden, das mit dem Altwerden einhergeht, wird zu einer erträglichen Wahrnehmung. Es fällt leicht zu akzeptieren, dass Freiheit und Tod Geschwister sind, die sich gegenseitig beeinflussen. Sie beleben das Labyrinth meiner Lebenszeit. Ähnlich den kaum überschaubaren Wegen vor meinem Mountainbike. Unwegsames Gelände erzeugt das Gefühl, ohne Takt und Rhythmus zu sein.

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Dem Philosophen Schopenhauer hätte das Biken gefallen. In seinem Hauptwerk «Die Welt als Wille und Vorstellung» sieht er den Willen als universellen Lebensdrang. Der Wille entsteht nicht durch mein in der Welt sein, sondern die Welt entsteht durch meinen Willen zum Leben. Der Intellekt ist nur ein Diener des Willens. Diese Erfahrung mache ich beim Mountainbiken immer wieder neu.

Kreta, Mountaibiken, Sport, Reise, Abenteuer
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