Urbanität und Fotografie

Stadt wird als Ort ständiger Umbrüche, flüchtiger Lifestyles und touristischer Begehung wahrgenommen.
Texte aus  "Ende der Schonzeit"

Urbanität - Lebensraum des Wandels.

Leben im urbanen Lebensraum bedeutet für mich: Leben mit dem stetigen Wandel. Der verändert, baut, plant. In einem Umfeld das als ständiges Provisorium erscheint. So entsteht in meinen Bildern ein harmonisches, widersprüchliches, groteskes und kurioses Nebeneinander. Ein Phänomen, das in Hattingen genauso zu finden ist wie in London oder Berlin. Ich mag dieses nebeneinander.


Ich mag die Brüche zwischen aufpolierten Fassaden und ihren funktionalen Kehrseiten. Was wäre eine Stadt ohne diese Brüche? Sie würde zu einem faden Ort touristischer Vermarktung. Zu einem Museum, in dem ein Ort vorgegeben wird, der aus Events und Fassaden besteht. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Vertrautem und Fremden näherte ich mich mit meiner Kamera dem Fremden und dem als nahe Empfundenen.
Erinnerungen an das Vergessen
Meine Fotos von "damals", vor dreißig Jahren, wirken heute wie nostalgische Klischeebilder einer vergangenen Zeit. Wer schon ein paar Jahrzehnte Leben auf dem Buckel hat, kennt dieses Gefühl: Zeiträume und Bilder verblassen in unserer Lebensgeschichte wie in einem Schneegestöber. Wir alle erinnern uns aus der Gegenwart. Die ist geprägt von den Erfahrungen eines ganzen Lebens. Im Grunde bewege ich mich in meinen Erinnerungen zwischen zwei Ebenen. Die erste behauptet: „So ist es gewesen”. Die zweite vermutet: „So habe ich es in Erinnerung.” Manchmal vermischen sich die beiden Ebenen in meinem Kopf wie in einem Puzzle  Die fehlenden Teile ergänze ich mit wohlmeinender Phantasie, blende aus, füge hinzu. Lege mir im Rückblick meine Lebenssituationen so zu recht, dass sie sich an meine Gegenwart anpassen. Die Schriftstellerin Christa Wolf beschreibt meine „Korrekturen“ mit dem stimmig freundlichen Credo: „Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen.”
Urbanes Leben als Provisorium
Mein Blick hier in Hattingen fokussiert sich auf das urbane Leben dieser Stadt. Urbanität erscheint als Begriff mit vielen Facetten. Manchmal auch als populistisches Schlagwort. Für mich bedeutet Urbanität ursächlich: Identität mit der Lebensart meines Umfeldes. Als Fotograf steht für mich die Glaubwürdigkeit meiner Bilder im Vordergrund. Deshalb reagiere ich aus dem „Beobachterstatus“, um Glaubwürdigkeit durch eine dokumentarische Sehweise zu erreichen. Es geht darum, das Bedürfnis nach Bleibenden, nach Orientierung und raumbezogener Identität als Spiegelbild der Lebensart der Bewohner zu erkennen.
Zeichen und Spuren im alltäglichen sozialen Raum sind das, was Stadt im urbanen Sinne ausmacht. Stadt wird als Ort ständiger Umbrüche, flüchtiger Lifestyles und touristischer Begehung wahrgenommen. Das Lokale wird global und zum Ort kultureller Differenzierungen. Urbanes Leben entwickelt sich weiter im Jonglieren mit Lösungen und deren bruchstückhafte Anpassung an aktuelle Notwendigkeiten.

Selbst zum Bild werden
Während meiner letzten Fotoarbeit in Hattingen 1987, gab es noch eine sichtbare Unbefangenheit, manchmal Unbeholfenheit, den Fotografien bzw. dem Fotografen gegenüber. Wenn mir die Menschen Fotos zeigten, wurden diese häufig aus einem Schuhkarton gekramt. Oder ein liebevoll gestaltetes Fotoalbum aus dem Wohnzimmerschrank geholt. Heute, dreißig Jahr später, werden mit dem Daumen knallbunte Bilder über Displays gescrollt. Darunter „Selfies“ mit Familie, Freunden und Haustieren. Auf allgegenwärtigen Displays erscheint ein neues Bildbewusstsein: Wir posieren, inszenieren und werden selbst zum Bild.
Wir haben uns synkronisiert mit der Welt der Bilder. Nur wenige Menschen können sich der Perfektion der leuchtenden Bildschirme entziehen. Niemals endende Wellen fotografischer Bilder suggerieren, dass wir Bescheid wissen in der Welt. Wir schauen jetzt selbst wie eine Kamera. Weil wir nur noch die Bilder sehen, von denen wir annehmen, dass die Welt in Bildern so aussieht.


Menschenbilder
„Ihre Bilder entsprechen der Realität“, hörte ich von einem Betrachter meiner Hattingen Fotos. Das ist ein Irrtum. Wer über Realität redet, spricht in einen Dschungel der Meinungen, Vorbehalte und Widersprüche. Die entstehen dadurch, dass Menschen die Fähigkeiten ihrer Wahrnehmungen überschätzen und mehr Erkenntnisse vorgeben, als vorhanden sind. Für mich gibt es keine Realität. Ich zeige vom Leben die Facette, die mir passt. Also das, was die Brille meiner Wirklichkeit für mich sichtbar macht. So entstehen Bilder, die durch das Sehen von innen heraus erlebt werden. Das klingt einfach. Doch gerade das Einfache wird komplex wenn es darum geht, Gewohntes neu zu entdecken. Komplexität in der Fotografie entsteht durch den Blick hinter die Oberflächen der Bilder. Das setzt Offenheit voraus, für Beobachtungen, die sich nicht selbst durch vorschnelle Interpretationen blockieren. In meiner Fotografie geht es darum, Neugier und Entdeckungsfreude immer wieder neu zu aktivieren.

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